Ivan Illich: Aufruf zur Feier unserer Menschlichkeit
„Ich und viele andere rufen euch auf:
zur Feier unserer gemeinsamen Kräfte, damit alle Menschen die Nahrung, Kleidung und Behausung erhalten, derer sie bedürfen, um sich des Lebens zu erfreuen;
zu gemeinsamer Entdeckung dessen, was wir tun müssen, damit die unbegrenzte Macht der Menschheit dazu benutzt wird, jedem von uns Menschlichkeit, Würde und Freude zu verschaffen;
zu verantwortlicher Bewusstheit unserer persönlichen Fähigkeit, unsern wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und uns dabei zusammenzuschließen.
Wir können diese Veränderungen nur leben; wir können unsern Weg zur Menschlichkeit nicht denken. Jeder einzelne von uns und jede Gruppe, in der wir leben und arbeiten, muss zum Modell des Zeitalters werden, das wir zu schaffen begehren. Die vielen Modelle, die dabei entstehen, müssten jedem von uns eine Umwelt bescheren, in der wir unser Vermögen feiern und den Weg in eine menschlichere Welt entdecken können.
Wir sind herausgefordert, die überholten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen aufzubrechen, die unsere Welt zwischen Überprivilegierte und Unterprivilegierte aufteilen. Wir alle ( … ) sind Mitschuldige. Wir haben es unterlassen herauszufinden, wie die notwendigen Veränderungen unserer Ideale und unserer gesellschaftlichen Strukturen herbeigeführt werden können. Daher verursachen wir alle durch unser Unvermögen und durch unsern Mangel an verantwortlichem Bewusstsein das Leiden ringsum in der Welt.
Deshalb müssen wir gemeinsam daran arbeiten, die neue Welt zu schaffen. Es ist keine Zeit mehr für Zerstörung, für Hass, für Zorn. Wir müssen aufbauen: in Hoffnung, Freude und Feier. Lassen wir ab davon, die Strukturen des industriellen Zeitalters zu bekämpfen. Suchen wir lieber nach dem neuen Zeitalter des Überflusses mit selbst gewählter Arbeit und mit der Freiheit, der Trommel des eigenen Herzens zu folgen. Lasst uns erkennen, dass das Streben nach Selbstverwirklichung, nach Poesie und Spiel dem Menschen eigentümlich ist, sobald seine Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung und Behausung befriedigt sind, und lasst uns diejenigen Tätigkeitsgebiete auswählen, die zu unserer eigenen Entwicklung beitragen und für unsere Gesellschaft etwas bedeuten (… )Unsere gegenwärtigen Ordnungen zwingen uns, die Werbung und die Verführung der Konsumenten zu fördern und hinzunehmen (… )Wir können diesen entmenschlichenden Ordnungen entrinnen. Den Ausweg werden diejenigen finden, die nicht bereit sind, sich von den scheinbar alles bestimmenden Kräften und Strukturen des industriellen Zeitalters einengen zu lassen. Unsere Freiheit und unsere Macht hängen von unserer Bereitschaft ab, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.
Die Zukunft ist ja bereits in die Gegenwart eingebrochen. Jeder von uns lebt in vielen Zeiten. Die Gegenwart des einen ist die Vergangenheit des anderen und die Zukunft wieder eines anderen. Wir sind zu einem Leben aufgerufen, in dem wir wissen und zeigen, dass es die Zukunft gibt und dass jeder von uns, wenn wir so wollen, die Zukunft in Anspruch nehmen kann, um sie gegen die Vergangenheit aufzuwiegen.
In der Zukunft müssen wir der Anwendung von Zwang und Autorität ein Ende machen, also der Fähigkeit, aufgrund der eigenen hierarchischen Stellung zu verlangen, dass etwas getan werde. Wenn man das Wesen des neuen Zeitalters über-haupt in eine Formel fassen kann, so lautet diese: das Ende von Privileg und Bevorzugung. Autorität sollte erwachsen aus der besonderen Fähigkeit, ein bestimmtes gemeinsames Vorhaben zu fördern.
Wir müssen von dem Versuch ablassen, unsere Probleme dadurch zu lösen, dass wir Machtverhältnisse verschieben oder versuchen, leistungsfähigere bürokratische Apparate zu schaffen (… )
Es geht darum, die Zukunft zu leben. Schließen wir uns freudig zusammen, um unsere Bewusstheit zu feiern, dass wir unserm heutigen Leben die Gestalt der morgigen Zukunft geben können.“
Ivan Illich
Abgedruckt in Ivan Illich, Klarstellungen, Beck´sche Reihe 1996. Titel der Originalausgabe: Celebration of awareness (Schöner und treffender!)
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